Kommende Salons

20. April 2018 11-17 Uhr in Trier

5. Mai 2018 11-17 Uhr in Leipzig

15. Juni 2018 11-17 Uhr in Bonn

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Konstantin Bethscheider

Ideologisch am Ende

Über die Zunahme von Anomie und die Notwendigkeit neuer Organisation am Ende des neoliberalen Zeitalters

 

Mit der Ankunft der AfD im parlamentarischen Spektrum, mit dem Brexit und der Wahl Donald Trumps zum Präsidenten der Vereinigten Staaten haben sich unübersehbar Verschiebungen im politischen Koordinatensystem der westlichen Welt bemerkbar gemacht, auf die jede politische Praxis, der in irgendeiner Form an der Emanzipation des Menschengeschlechts gelegen ist, notwendig Bezug nehmen muss. Eine Analyse dieser Erscheinungen hätte zu fragen, ob es sich um gänzlich neue Phänomene handelt, ob hier womöglich Wiedergänger alter politischer Albdrücke im neuen Gewand gehen, oder ob es vielleicht gar die Fortsetzung des Immergleichen ist, mithin also die Verlängerung der neoliberalen Ideologie in Zeiten, worin sie formal ausgedient hat – ein Umschlag demnach von Quantität in eine neue Qualität. Die betreffenden Fragen können so wenig mit Eindeutigkeit beantwortet werden, wie es unmöglich ist, eine unmittelbare Strategie zu formulieren, die die Ereignisse adäquat problematisieren würde und einige Aussicht auf Erfolg hätte. Daher scheint es am Platz, einige grundlegende Fragen an die Situation heranzutragen, die zumindest dazu beitragen könnten, eine eigene Verortung vis-à-vis der veränderten Lage durchzuführen.

Zunächst scheint mir unstrittig zu sein, dass es sich bei der neuen Situation um eine veränderte Lage des ideologischen Überbaus handelt. Wie genau diese Veränderung aussieht, wie tiefgreifend sie ist und wie sich ihre Beziehung zu dem darstellt, was man traditionsmarxistisch als die »Basis« bezeichnet, scheint mir weitaus strittiger zu sein und soll daher vorerst hintangestellt werden. Unbestreitbar allerdings macht sich hier eine Bewusstseinslage Luft und gelangt an die Öffentlichkeit, die vorher in dieser Vehemenz zumindest nicht in der öffentlichen Meinung vertreten war und die Anspruch darauf erhebt, ein irgend oppositionelles Bewusstsein zu artikulieren. Nicht nur die Rede der AfD darüber, sie hole sich ihr Land zurück, legt davon Zeugnis ab, auch Donald Trumps Anti-Eliten-Rhetorik und der länderübergreifend virulent gewordene Diskurs über die Verseuchung der Massenmedien durch elitäre, globalistische, kulturmarxistische, linksgrünversiffte und verjüdelte Medienmacher sind bezeichnende Beispiele des nämlichen Ideologems.

Die erste Frage lautet also, woher die betreffende ideologische Verschiebung stammt. Insofern die sogenannte Flüchtlingsfrage sich zumindest in Deutschland zu einem der Steckenpferde des Rechtspopulismus auswachsen konnte, läge es nahe zu mutmaßen, es könne sich womöglich um eine Reaktion der Bevölkerung auf das Ausbleiben einer in welchem Sinne auch immer befriedigenden Antwort auf diese Situation handeln – womit man allerdings davon absehen würde, dass sich nicht nur analoge Entwicklungen in Ländern vollziehen, die weit weniger von den demographischen Veränderungen betroffen sind als Deutschland, sondern zudem dass die deutsche Antwort weit über ihre tatsächlichen politischen Implikationen hinaus außerhalb der deutschen Grenzen zum Politikum werden konnte. Dass die Versteifung auf Fragen der Immigration mehr auf ideologische Bedürfnisse zurückzuführen ist als auf Sachfragen, die mit Migrationsströmungen zusammenhängen, erweist sich nicht nur an der absoluten Unempfindlichkeit der obsessivsten Disputanden für sachliche Argumente, sondern auch an der Beliebigkeit des Feindbildes, das dennoch geschlossen aufgerichtet wird. Sind es hier die »Flüchtlinge«, namentlich also insbesondere Betroffene des syrischen Bürgerkriegs, so muss in den USA die »illegal immigration« der Mexikaner als Sündenbock für die agitierten Teile der Bevölkerung herhalten. Hier wie da dienen die betreffenden Ausländer ohnehin vor allem zur Illustration der jeweiligen nationalen Dekadenz, in die man selbstredend durch globalistische Eliten getrieben wurde, sodass man mangels nationaler Identität nunmehr den islamischen Horden schutzlos ausgeliefert ist, wenn man nicht schnellstens beginnt, die westlichen Werte durch bewaffnete Grenzposten verteidigen zu lassen.

Damit berührt man auch schon eine der ideologischen Kernfragen, um die sich die Debatte unweigerlich dreht: Was sind die Werte der westlichen Welt, wer darf für sich in Anspruch nehmen, sie zu vertreten oder sie einzufordern, und dürfen diese Werte sich überhaupt westlich nennen? Gerade die letzte Frage verweist auf die notwendige innere Zerrissenheit dieser Debatten: Nennen sich diese Werte westlich, weil sie aus dem Westen stammen und sich historisch dort zuerst verwirklichten, oder weil es Werte des Westens sind? Bereits die Schwierigkeit, diese Fragen problemlos zu beantworten, deutet darauf hin, dass das westliche Wertesystem sich zumindest im Wanken befindet. Obwohl das spätestens seit der Moderne nichts Neues ist, hat sich doch etwas verändert: Es gibt keine Parolen mehr, auf die sich die Bevölkerung einheitlich oder zumindest in ihren überwiegenden Teilen einschwören ließe. Selbst das Bekenntnis zur FdGO, zur Freiheitlich-demokratischen Grundordnung, taugte grade so lange als »Leitkultur«, wie der Klassenfeind akut im Osten an der Grenze stand. Mit seinem Wegfall erodierte auch sie, und zwar in einem solchen Maße, dass selbst ihre Verteidiger das Wort nur noch als Zitat bemühen.

Dennoch natürlich ist es nicht so, dass da nichts wäre, woran man sich halten könnte. Amokläufe bleiben Ausnahmeerscheinungen, die Justizsysteme funktionieren als Klassenjustiz wie eh und je, aber sie funktionieren, die Aufhebung der Gewaltenteilung bricht sich nur in Ausnahmefällen Bahn, und das Alltagsleben zumindest der Deutschen geht weiterhin seinen Gang. Im Großen und Ganzen. Insofern sie notwendig sind, Alltagspraktiken und Institutionen zu stützen, halten die »Ideologischen Überbauten«, jedenfalls derzeit noch, wie auch immer die Grabenkämpfe zwischen den beständig sich vermehrenden Fraktionen zunehmen.

Der Ton verschärft sich allerorten: Das »Pack« in Ostdeutschland und die »Deplorables« in den Vereinigten Staaten auf der einen Seite, die Ostküsteneliten und Metropolenökos auf der anderen, werden kaum noch eine gemeinsame Sprache finden, ja fast schon nicht mehr eine gemeinsame Welt. Die Faktenlage, auf die man sich irgend gemeinsam beziehen könnte, wird beständig dünner: Die einen verbrämen Lügen als »Alternative Fakten« und denunzieren die linksgrün-ideologische-kulturmarxistische Medienelite, die anderen sehen in Faktizität das Wirken der kapitalistisch-imperialistischen Hegemonie alter, weißer Männer am Werk, und gemeinsam ist man sich darüber einig, dass schon die regelmäßige Lektüre von Medien, die nicht den eigenen Stallgeruch haben, im besten Fall zur Feindaufklärung taugt.

Einfach zu sagen, die Ideologisierung schreite fort; noch einfacher, sie vor allem allen anderen vorzuwerfen. Wovon aber reden wir tatsächlich, wenn wir über »einstürzende Überbauten« sprechen? Zunächst scheint eine Begriffsklärung am Platze. Zur internen Differenzierung dessen, was diskutiert werden soll, bieten sich meiner Einschätzung nach die folgenden drei Begriffe an: Ideologie, Ideologien und Ideologeme. Der erste Teil dieses Triplets ist der vertrackteste, insofern er sich einerseits unterschieden soll vom bloßen Wahn(system), mithin über eine wie auch immer vermittelte Notwendigkeit verfügt, und er andererseits nicht unmittelbar darauf hinauslaufen kann, jegliche Form der Weltanschauung im gleichen Maße und auf die gleiche Art zu erfassen. Das Problem besteht folglich darin, die epistemischen Grundlagen des Ideologiebegriffes so anzusetzen, dass Ideologiekritik als solche nicht verunmöglicht werde – indem sie beispielsweise selbst nur noch situiert wird als bestimmte Ideologie unter anderen – und sich zugleich als spezifische Methode erhält: Ideologiekritik ist vor diesem Hintergrund dann nicht etwa die Bewusstseinslage des Ideologiekritikers, sondern eine bestimmte Form des Umgangs mit den vorhandenen Faktizitäten, die über Ideologie hinausweist. Diese, die begriffsgeschichtlich ihren Ursprung findet in Destutt de Tracys Kreis der Idéologues, vermeinte ursprünglich, die soziale Genese der Bewusstseinsinhalte transparent herzuleiten, um im Zuge einer alles umfassenden Lehre vom Menschen die Missverständnisse der Menschen erklärbar zu machen und schlussendlich zu beseitigen. Historisch zunächst der städtischen Marktwirtschaft verschwistert, weist ihre bloße Existenz schon auf Vermittlung durch Geist. Stets ist Ideologie Rechtfertigung des Gegebenen, damit es dieser allerdings bedarf, muss es selbst schon fragwürdig geworden sein. Unmittelbarer Zwang bedarf weder der Ideologie, noch ist er ihr zugehörig. Erst, dass Gewalt fragwürdig wird, nötigt zu ihrer Rationalisierung. Ideologie ist so die Summe all derjenigen Überzeugungen, die geeignet sind, Machtverhältnisse zu stützen und zu rechtfertigen – indem sie allerdings die Rechtfertigung überhaupt bemühen müssen, trägt sie virtuell in jedem Punkt ihrer Bewegung bereits ein egalitäres, antihierarchisches Moment in sich. Indem sie das Bedürfnis erfüllt, Macht diskursiv zu begründen, hat sie teil an der Freiheit des Diskurses, erkennt potentiell bereits an, dass die Vernunft als solche nicht der Macht untersteht und hält sie dadurch beständig fragwürdig, in letzter Instanz selbst autonom. Ideologie enthält demnach ein Element, das sich der Totalisierung zunächst versperrt. Eben darum besteht die bürgerliche Ideologie nicht als Monolith, sondern erhält sich – womit wir zum zweiten Teil des Triplets kommen – als Ideologien, womit die unterschiedlichen Gedankensysteme beschrieben sein sollen, die die Verwaltung des Bestehenden im Schilde führen und die nicht nur auf dem Marktplatz der Ideen als -ismen konkurrieren, sondern die zudem – darin verwandt den Ideologien Destutt de Tracys – die Ideen der Einzelnen über das soziale Miteinander und seine Notwendigkeiten bestimmen.
Die Ideologien sind dabei keineswegs nur unmittelbare Stützpfeiler der Macht, mitnichten bloßes Werkzeug der Herrschenden in der Durchsetzung ihres Interesses, sondern zudem Garanten der sozialen Kohäsion auch dort, wo scheinbar keine Macht waltet. So zum Beispiel all jene Ideen der Solidarität, die nicht über das Bestehende herausgreifen, sich als Anstand der kleinen Leute geltend machen und die sich bevorzugt gerade da verbreiten, wo die sozioökonomische Integration ohnehin nicht in der Lage ist, die Subsistenz der Einzelnen ohne solche informellen Netzwerke zu gewährleisten. Wie oppositionell auch immer sich das Selbstverständnis der betreffenden Gruppen ausnimmt, wirken sich ihre Ideologien der menschlichen Güte, ursprünglichen Solidarität und was dergleichen mehr ist, doch zugleich mindest insofern stabilisierend gegenüber dem System aus, als der ungebrochene Glaube an diese Strukturen den sozialen Frieden auch dort aufrechthalten kann, wo eine direkte institutionelle Einbindung versagt.

Das Funktionieren von Ideologie schlechthin – und damit kommen wir auf die einstürzenden Überbauten zurück – bestimmte sich wesentlich über ihre Fähigkeit, den Ideologien einen gemeinsamen Interpretationsrahmen zur Verfügung zu stellen, der durch seine Fraglosigkeit die Bedingung der Möglichkeit gewaltfreier Vermittlung rivalisierender Interessen stiftete. Überall dort, wo ein solcher Ausgleich ausbleibt oder sich verunmöglicht, sickert Anomie in die Ordnung, für deren Rechtfertigung Ideologie doch garantieren sollte. Weder sind diese Exklaven der Regellosigkeit noch gedeckt durch Ordnung und Macht, noch taugen sie zu ihrer Konservierung, wie es die schon erwähnten Pauper-Ideologien zumindest indirekt gewährleisteten.

Dieser Punkt lässt sich durch die anomietheoretischen Überlegungen Robert Mertons und Emile Durkheims plausibilisieren. Merton unterscheidet zwischen der kulturellen und der sozialen Sphäre der Gesellschaft, wobei – übersetzt in marxistische Terminologie – die kulturelle Sphäre eher dem Überbau, die soziale Sphäre eher der Basis zuzuschlagen wäre. Während die kulturelle Sphäre im Wesentlichen die gesellschaftlich wünschenswerten Zielvorstellungen für das eigene Leben definiert und zudem eine Reihe legaler und legitimer Mittel zur Erreichung dieser Ziele definiert, inkorporiert die soziale Sphäre den tatsächlichen Umgang der Gesellschaftsmitglieder mit den so gesetzten Wertvorstellungen und die beständige Kollision der normativen Setzungen der Gesellschaft mit ihren materiellen Grundlagen. Aus einer Dissoziation der Mittel und Zwecke, die als legitim gelten können, ergeben sich logisch fünf mögliche Verhaltensweisen, die Merton wie folgt kategorisiert: Konformität, Innovation, Ritualismus, Rückzug und schließlich Rebellion. Konformität beschreibt dabei das fortgesetzte Verhalten, die kulturell vorgeschriebenen Ziele mit den zur Verfügung stehenden Mitteln erreichen zu wollen, Innovation das Verhalten diese Ziele mit unbekannten oder unerwünschten Mitteln zu erreichen, Ritualismus ein Beibehalten der Mittel bei offenkundiger Unerreichbarkeit der Ziele, der Rückzug die Abkapslung vom sozialen Miteinander und die Rebellion schließlich das Aufbegehren gegen die gesellschaftlichen Mittel und Ziele. Es ist offenkundig, dass die Konformität in dem Maße, in dem sich die Verfügbarkeit verringert, notwendig in Ritualismus umschlägt und daher eine bruchlose Konformität selbst dann nicht als gesellschaftlicher Normalzustand gesetzt werden kann, wenn subjektiv die besten Vorsätze bei allen Gesellschaftsmitgliedern dazu existierten.

Der Umschlag des Konformismus in Ritualismus bedingt dabei nicht etwa nur ein Ausbleiben des Erfolgs bei denjenigen, die den so überholten ideologischen Praktiken anhängen – er affiziert zudem die systematische Stellung der betreffenden Ideologie im Verhältnis zur gesellschaftlichen Totalität. Stellte ein affirmatives Verhalten zu ihr zuvor ein zwar unkritisches, aber immerhin zumindest zur Erlangung persönlicher Vorteile realitätsgerechtes, normatives Gerüst zur Verfügung, hypostasiert sie sich mit dem Verfall in Ritualismus endgültig zum Fetisch. Da sich die so erhaltenen Restbestände nicht mehr mit Vernunft in einem seis objektiven, seis zumindest gesamtgesellschaftlichen Sinne vermitteln lassen, liefern die betreffenden Soziotope einen idealen Nährboden für anomische Tendenzen – ob diese oder jene Unvernunft das eigene Unglück verwaltet, gibt sich nicht viel, und vor eine solche Wahl gestellt, bietet es sich regelrecht an, demjenigen Wahn anzuhängen, der einen die meiste Beute machen lässt. Dieses Untersuchungsparadigma führt offenkundig ein notwendiges Bias mit sich: Kohärent angewendet muss es zu dem Schluss kommen, dass anomische Tendenzen insbesondere in den unteren Schichten der Bevölkerung zu finden sind, denen die Mittel zur Erreichung ihrer Ziele verwehrt bleiben. Es bietet sich daher an, Mertons Ansatz auf den Durkheims treffen zu lassen, der noch im Elend einen Schutzwall gegen Anomie entdeckte und darauf verwies, dasselbe nötige zu einer Beschränkung der Wünsche. Durkheim entdeckt anomische Tendenzen insbesondere im Handel und der Industrie, wo er Tendenzen zu Regellosigkeit und mangelnder Mäßigung und der Zügelung menschlicher Wünsche und Leidenschaften entdeckt. Der Horizont der unteren Schichten wird, so Durkheim, »durch diejenigen begrenzt, die ihnen übergeordnet sind; (…) dadurch sind ihre Bedürfnisse eher abzusehen. Aber diejenigen, die über sich nur die Leere haben, verlieren sich fast mit Notwendigkeit darin, wenn keine Macht sie zurückhält.«

Während Durkheims Diagnose für die unteren Schichten nicht zuletzt dadurch bezweifelt werden darf, dass zumindest ein Wissen um luxuriöse oder ausgefallenere Bedürfnisse und ihre soziale Anerkennung inzwischen massenmedial vermittelt allen Bevölkerungsschichten zugänglich ist und die asketischen Ideale des klassischen Bürgertums, wie immer sie in Gestalt grüner oder artverwandter Verzichtsideologien verändert wiederkehren, an Bindungskraft verlieren, besitzt sein Verdikt für die oberen Schichten einiges an Plausibilität, selbst unter der Annahme, dass die betreffenden Bevölkerungsgruppen nicht etwa ihre Bedürfnisse entgrenzen, sondern die Kohärenz der Ideale der kulturellen Sphäre schichtenübergreifend gegeben ist. Treibend für anomische Tendenzen in der herrschenden Klasse wäre dann eher die prinzipielle Entgrenzung, die im Kapital schlechthin angelegt ist. Im gleichen Maße, in dem sich ein Individuum als Eigentümer von Produktionsmitteln begreift, ist es schließlich darauf angewiesen, sich in der Konkurrenz zu bewähren: Da aber die Profitrate des konkurrierenden Kapitals nicht absehbar ist, drängt es seiner Eigendynamik nach zumindest zur Überschreitung der als legitim gesetzten Mittel, wo es nicht gleich zur Illegalität übergeht. Als Bourgeois, nicht als Citoyens kündigen sie den legitimen Mitteln auf.

Der Verlauf der Bankenkrise der Jahre 2007ff. demonstriert recht eindrucksvoll, welche Dynamik ich hier zu beschreiben suche. Es reißen mithin an beiden Enden der sozialen Sphäre Kräfte an ihr. Gleichwohl sind diese Kräfte sich nicht entgegengesetzt, sondern supplementieren sich wechselseitig. Die prinzipielle Schrankenlosigkeit, die den Oberen als ökonomischer Imperativ gegenübertritt, dem sie schon zu folgen genötigt sind, insofern sie den normativen Maßstäben genügen wollen, die an sie als »Arbeitgeber« gestellt werden, ergreift von den Massen Gewalt in dem Grad, in dem diese sich als Unternehmer ihrer selbst begreifen, wodurch sie nicht zuletzt durch die neoliberale Umstrukturierung der Sozialsysteme der westlichen Welt genötigt sind. Im Land von Agenda 2010 und Hartz-Reformen wird diese Tendenz sogar expressis verbis eingefordert im Wort von der Ich-AG, als die sich die Deklassierten vorzugsweise begreifen sollten, um so die maximale Rendite für die unsichtbare Hand einzufahren. Verstärkt wird sie dadurch, dass Bereiche, die eine normative Gewalt jenseits der Ökonomie darstellen konnten, derselben einverleibt werden: Privatisierungen in Kultur, Bildung und Forschung unterhöhlen den Wert von Intelligenz und Wahrheit als solcher und lassen sie als abhängige Variable der gesellschaftlichen Opportunität erscheinen: Je mehr eine Wahrheit, die keinen ersichtlichen Nutzen abwirft, unter dieser Prämisse auch tatsächlich als unnütz und daher womöglich verwerfenswert erscheint, umso prekärer wird der Stellenwert der Wahrheit überhaupt.

Die Sozialpartnerschaft wiederum hat weitgehend unter dem Druck der Standortkonkurrenz abgedankt und im Zuge dessen die vermittelnden Instanzen beseitigt, die den heftigsten Aufeinanderprall der Interessen verhinderten. Im Gegensatz dazu treffen nach Fukuyamas »Ende der Geschichte« zunehmend atomisierte Marktteilnehmer aufeinander, deren Häfen systematisch weggespült werden von den Sachzwängen einer Ökonomie, für die beständig postuliert wird, eine Alternative zu ihr sei undenkbar oder die blanke Tyrannei. Zu diesen Häfen gehört freilich nicht nur die staatliche Ordnung, sondern zudem eine Vielzahl von Institutionen, die der Atomisierung zu Warenmonaden zumindest partiell Einhalt geboten. Stattdessen bleibt diejenige subjektive Struktur zurück, die Löwenthal und Guterman in ihren »Prophets of Deceit« noch als den primären Träger dessen benannten, was sie als »soziale Malaise« verstehen – Subjekte mit erhöhter Anfälligkeit für jede Art von Agitation, die beständig einen Schuldigen für ihre Misere suchen und die zur Wahrung ihrer verbleibenden Privilegien notorisch nach einem »Unten« suchen, gegen das sich noch treten lässt.

Das Wegbrechen der Mittelschicht und das Auseinanderklaffen der Schere zwischen Arm und Reich, das in allen Ländern der westlichen Welt einigermaßen beständig in den Jahren seit dem Ende des Kalten Kriegs zu beobachten ist, wirkt, betrachtet vor dem Hintergrund dieser Folie, gleichzeitig als eine Art moralische Korrosion verheerenden Ausmaßes, die von allen Mitgliedern der Gesellschaft beobachtet werden kann. Je nachdem, welchen Blickwinkel man einnimmt, um diesen Verfall zu beschreiben, stellt er sich dar. Gemeinsam ist den Perspektiven, dass Konformität in Mertons Sinne einerseits immer weniger geeignet ist, sich innerhalb seiner sozialen Peergroups »nach vorne« abzusetzen und dass andererseits das non-konforme Verhalten rivalisierender Gruppen immer deutlicher kenntlich wird, sodass die eigene Bereitschaft zur Normverletzung sich steigert. Abhängig davon, ob man die Szenerie von den unteren sozialen Schichten aus betrachtet oder die Perspektive der sogenannten »Eliten« wählt, gestaltet sich die Natur dieser Normverletzungen freilich recht unterschiedlich. Schlagwortartig lässt sich diese perspektivische Verzerrung insbesondere bebildern am Konflikt der »Deplorables« mit den »Globalists« der Vereinigten Staaten. Erstere, die ökonomisch gebunden sind ans nationale Kapital und traditionelle Formen der Mehrwertauspressung nehmen die ökonomischen und intellektuellen Eliten wahr als eine zunehmend korrupte Gruppe prinzipienloser Spekulanten, denen die Menschenwürde konkreter Einzelpersonen und die Dignität ihrer kulturellen Eigenheiten, sowie die institutionellen Strukturen, die ebendiese schützen, reichlich gleichgültig sind, während sie ungeachtet dessen große Reden schwingen über Demokratie, Pluralismus und die Vorzüge des herrschaftsfreien Diskurses. Zugleich betrachten letztere, deren finanzielles, kulturelles oder soziales Kapital ihnen eine größere Reichweite gestattet und unabhängig macht von der Verwurzelung an die heimische Scholle die ersteren als hinterwäldlerische, intolerante, der Vernunft gänzlich unzugängliche Ewiggestrige, denen wahlweise mit Verachtung oder paternalistischer Fürsorge zu begegnen ist, was in Hinblick darauf, wieviel Abschätzigkeit im Umgang daraus resultiert, freilich wenig Unterschied macht. Wohlverstanden enthebt die Diagnose des Problems nicht davon, ihm gleichermaßen unterworfen zu sein. Diese Dynamik des Zerfalls des Sozialen pflanzt sich selbst dort fort, wo eine Einsicht über sie vorhanden ist.

Dass der Zerfall normativer Strukturen durch die Einsicht in die Tatsache des Verfallens nicht aufgehalten werden kann, liegt daran, dass es unveräußerlicher Bestandteil des Funktionierens normativer Strukturen ist zu designieren, welche Verhaltensweisen sich noch im Rahmen des Erträglichen bewegen und welche Positionen oder Praktiken partout nicht für sich beanspruchen können, noch satisfaktionsfähig zu sein. Die Grenzen des Unerträglichen bewegen sich objektiv, und zwar egal, welche subjektive Haltung man dazu bezieht. Entweder beharrt man darauf, moralisch dem Status quo ante anzuhängen und empfindet immer größere Teile der Bevölkerung als unzumutbar und jenseits dessen, was man noch zu diskutieren bereit ist, oder aber man weigert sich anzuerkennen, dass immer weniger Menschen überhaupt noch als ansprechbar gelten dürfen, wozu man die eigenen Standards dessen, was man noch als zulässig und diskutabel empfindet, aufweichen muss. In beiden Fällen ist es unmöglich, denselben Blick auf die Welt zu behalten – in ersterem Fall wird sie düsterer, insofern die Menge der Menschen, die man nur noch als Feind betrachten kann, steigt, im letzteren Fall verfinstert sie sich dadurch, dass die als zumutbar empfundenen Mittel stetig barbarischer und wenig human werden.

Wendete man diese Überlegungen auf die Begriffskonstellation aus Ideologie, Ideologien und Ideologemen an, so bedeutete dies, dass die mangelnde materielle Deckung der Ideologien sukzessive zu einem Verfall der Ideologie als solcher führt, die dadurch mitnichten aufgehoben wird, sondern vielmehr direkten Gewaltverhältnissen weicht, für die sich Ideologiekritik schlechterdings nicht mehr zuständig fühlen kann. In ihnen waltet nicht etwa Einsicht oder gar eine wie immer vermittelte oder instrumentalisierte Vernunft, sondern ihre absolute Abwesenheit. Eben darum emanzipieren sich die verbleibenden Perspektiven auch so widerspruchslos von den Ansprüchen, die Ideologie den Individuen noch zumutete. Die gedanklichen Ruinenlandschaften, die die Menschen in diesem Stadium der Vergesellschaftung als ihre Standpunkte verstehen, haben nicht mehr jenen Horizont der Gerechtigkeit als Aussicht, der am klassischen Ideologiebegriff über seine apologetische Funktion hinauswies: Keine Vernunft verbleibt, der noch die Apologie geleistet werden müsste. Was bleibt, ist die Rationalisierung der eigenen Unmenschlichkeit gegenüber der herrschenden Macht, die einstweilen noch unterm Banner von Liberalität und Menschenrechten segelt, obwohl die Besatzung immer deutlicher zu verstehen gibt, dass sie die Meuterei auch dagegen lieber heute als morgen sähe.
Hier liegt die systematische Relevanz der Ideologeme: Versatzstücke überkommener Ideologien, die ihre Bezüge verloren haben und als Tickets, gleichsam Signale im je eigenen Klüngel, nur noch kommunizieren, unter welchem Vorwand man heute, unter welchem man morgen gegen wen zuschlägt. So losgelöst von jeglicher Naturwissenschaft heute Studien stattfinden können, die mal dieses für, mal jenes gegen die Geschlechtergleichheit oder den Klimawandel beweisen, so gierig bleibt man dennoch darauf, den je eigenen Vorurteilen noch höhere Weihen verleihen zu dürfen – auch die, die den Eliten misstrauen und längst nicht mehr glauben, Reichtum hänge mit Leistung oder gar Gottesgnaden zusammen, verweisen bei Gelegenheit allzu gern auf Trumps Erfolg. Auch jene, die den Akademien als Instituten der patriarchal-phallogozentrischen Matrix längst abgeschworen haben, verzichten ungern darauf bei Gelegenheit zu erwähnen, welche Professoren ihnen welche Stichworte aus welchem Elfenbeinturm zuriefen.
Gegen solchen Eklektizismus auf innere Konsistenz zu beharren muss schon insofern aussichtslos bleiben, als der Anspruch selbst noch einem Bedürfnis entspringt, das auf eine andere Konstellation aus Basis und Überbau zielt als derjenigen, der solche Zerrüttungserscheinungen entspringen. Insofern Ideologiekritik in dieser Konstellation überhaupt noch einen Ort hat, muss sie sich zur Aufgabe machen, Ideologeme reinlich von Mustern der Ideologie zu scheiden, um zugleich das Wahrheitsmoment der letzteren aufzuheben sowie zu verhüten, dass erstere dasselbe endgültig verschüttgehen lassen. Affirmiert sie dabei jedoch schlicht die Rolle der ›alten‹ Ideologie, so macht sie sich zur Vollzugsgehilfin all derjenigen Kräfte, die das Zementieren der Privilegien des Status quo ante im Schilde führen. Dass ein Element von Vernunft und Gerechtigkeit in ihr beschlossen war, machte sie notwendig – wo diese Notwendigkeit verlorenging, ist sie nicht durch stumpfes Festhalten an der Ideologie zu restituieren, die doch ihrer Struktur nach Rationalisierung der Macht war, nicht etwa selbst schon rational. Progressiv ist nicht sie selbst, sondern dasjenige Moment einer vergangenen geschichtlichen Formation, das zu ihr nötigte. Der Wiederaufbau einer Partei allerdings, die Vernunft in der Geschichte einfordert, ist weder von Seiten der Ideologie, noch von Seiten der Ideologiekritik zu erwarten.